Aus: Bieler Tagblatt, 26.08.2016

Wie Phönix aus Schutt und Asche stieg

Zum 750-Jahre-Jubiläum wird im Stedtli ein Museum eröffnet, das dessen Geschichte dokumentiert. Mittelpunkt ist der Altstadtbrand, der im Jahr 1915 die Menschen erschüttert hat und bis heute nicht vergessen ist. Freiwillige haben hunderte Arbeitsstunden in das Museum investiert.

  • 1/19 Copyright: Peter Samuel Jaggi / Bieler Tagblatt

Lotti Teuscher

An der Haustür im engen Gässli hängt das Plakat einer Schifffahrtgesellschaft. Dies ist wenig erstaunlich, schliesslich besitzt Erlach einen Hafen. Doch auf den zweiten Blick irritiert das Plakat: Es stammt aus dem Jahr 1892 und zeigt den Fahrplan der Dampschifffahrts-Gesellschaft von Erlach nach Neuenstadt – den ersten Fahrplan, den die Dampfschifffahrt drucken liess. Hinter dieser Tür verbirgt sich das Museum, in das der Erlacher Jürg Fahm 500 Stunden Freiwilligenarbeit investiert hat. Unterstützt von seinen Kolleginnen und Kollegen von der FDP und weiteren Leuten, die ungezählte Stunden gearbeitet haben.

Auf den ersten Blick nehmen Besucher ein Sammelsurium aus Werkzeugen und Haushaltsgegenständen wahr. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Buchpresse, Rahmschüssel und Damenschuhen scheint ihr hohes Alter zu sein. Doch die vielen Gegenstände verbindet eine weitere Gemeinsamkeit – sie erzählen eine Geschichte von Not, Verzweiflung und Elend. Eine Tragödie, die im kollektiven Gedächtnis der alteingesessenen Erlacher haften geblieben ist – obwohl seither 101 Jahre vergangen sind.

 

Ende und Neubeginn

Der pensionierte Erlacher Jürg Fahm führt seit Jahren Touristengruppen durch das historische Stedtli. Immer wieder werde er gefragt: «Weshalb können wir das Schloss nicht besichtigen?» Dieses Schloss, das dem Kanton gehört, in dem Kinder leben und lernen, die intensive Betreuung nötig haben. In Absprache mit dem Schulleiter wurden Jürg Fahm die Schlüssel zum Esssaal und dem historischen Turm überreicht. Doch dies genügt ihm nicht mehr, als er den Estrich im Schloss entdeckt. «Wow», habe er gedacht, als er den Raum zum ersten Mal sah: «Daraus könnten wir ein Erlacher Museum machen.» Und zwar zum 750. Geburtstag des Stedtli, der dieses Jahr gefeiert wird. Fahm erhielt sogleich Unterstützung. «Nur leider folgte kurz darauf der Schock», erinnert er sich. Die Messung der Statik ergab, dass der Estrich viel zu instabil ist, um Besuchergruppen zu tragen.

Damit hätte Jürg Fahms Museumstraum zu Ende sein können. Doch inzwischen sind auch die Gemeindevertreter überzeugt von der Idee. Die Gemeinde überlässt ihm zwei Räume, in denen sich zuvor ein Massenlager für Touristen und Soldaten und ein Essraum befunden hatten. Per Flugblatt suchte Fahm nach Gegenständen, die den grossen Brand in der oberen Altstadt im Jahr 1915 am 15. August überlebt hatten. Es war der letzte grosse Altstadtbrand in der Schweiz; die gesamte Südzeile am Schlossberg ging in Flammen auf. Damals waren sämtliche Männer im Militär, es fehlte an Helfern.

 

30 Menschen in Not

Die Brandursache wurde nie restlos geklärt. Vermutlich entzündeten sich in den Estrichen Dörrgut, Holz, Heu und Stroh. Der Hauptgrund für das Inferno dürfte indes die dürftige Bauart und die fehlenden Brandmauern zwischen den Häusern gewesen sein – nur so lässt sich erklären, dass neun Familien obdachlos wurden.

Menschen und Haustiere überlebten das Inferno unverletzt. Doch rund 30 Menschen hatten innerhalb weniger Stunden ihr Zuhause und fast ihr ganzes Hab und Gut verloren; notabene Leute, die ohnehin nur wenig ihr Eigen nannten: Melker, Taglöhner, Dachdecker oder Steinschleifer. Und das zu einer Zeit, als es noch keine Versicherungen gab. Als ob dies nicht schlimm genug war, wurden den obdachlosen Hausbewohnern auch noch Teile des geretteten Hausrats gestohlen.

Manche Alteingesessenen haben den alten Hausrat bis heute aufbewahrt; in Bern entdeckte der autodidaktische Museumskurator gar eine wahre Fundgrube. Gottfried Forster, von Beruf Kaminfeger, hatte zahlreiche Gegenstände aus den Ruinen seines Hauses gerettet. Sein Enkel Werner Forster hat den Hausrat in seinem Atelier im Bern aufbewahrt. Einen Grossteil dieser Gegenstände hat er Jürg Fahm überlassen, aber nicht alle: Von einigen Gegenstände kann sich der 94-jährige Grafiker bis heute nicht trennen.

Perfekt erhalten ist das Teegeschirr mit Erlacher Motiven; es beweist, mit welcher Sorgfalt die Menschen früher mit ihrem Hausrat umgingen. Eine Korbflasche, sorgfältig mit Hanfschnüren umflochten, zeugt von der Geduld, die die Menschen vor hundert Jahren aufbrachten, wenn sie etwas anfertigten. Die Schale in Fischform verweist auf einen Berufszweig, der in Erlach während Jahrhunderten wichtig war: die Fischerei.

Da ist auch eine schwarz verrusste Pfanne, «ein Prachtstück», wie Jürg Fahm sagt, die unzählige Stunden über dem offenen Feuer gestanden hat. Oder die grosse Nidleschüssel, die bis zum Rand mit roher Milch gefüllt wurde. Nach 24 Stunden schöpfte die Hausfrau den Rahm ab. Da sind die reich bemalte Handnähmaschine, die sorgfältig gepflegten Werkzeuge, die Mostpresse. Eine Bettflasche, damals Bassine genannt, beweist, dass sich Erlach früher direkt auf dem Röstigraben befand: Die Bezeichnung ist vom französischen La Bassine abgeleitet.

Das mit Quincaillerie (Eisenwaren- laden) angeschriebene Geschäft an der Hauptstrasse von Erlach, das auf einem alten Foto zu sehen ist, beweist ebenfalls, wie nah sich früher Deutsch und Französisch war: Von Quincaillerie abgeleitet ist das berndeutsche «gänggele».

 

Römische Hinterlassenschaft

Das Vermischen von Sprachen hat wahrscheinlich auch den Namen Erlach (französisch Cerlier) hervorgebracht. Vermutlicher Namensgeber von Erlach war der Römer Caurelius, ein Gutsbesitzer. Aus Caurelius abgeleitet wurde der französische Ortsname Cerlier – eine Bezeichnung, die allerdings kaum noch Romands verwenden, auch sie sprechen von Erlach. Erlach wiederum ist eine eingedeutschte Version von Cerlier, zuerst hiess die Gemeinde Zerlach, woraus Erlach entstand. Falsch hingegen ist, wie heute vielfach angenommen, dass der Name aus Erle und Ach (Bach) abgeleitet sei. Es sind Geschichten dieser Art, die Jürg Fahm erzählen will, wenn er Besucher durch das Museum führt.

Manche der ausgestellten Gegenstände geben Rätsel auf. So wurden Jürg Fahm zum Beispiel zahlreiche Buchpressen angeboten. «Weshalb», fragt er sich, «brauchten die Erlacher Haushalte so viele Buchpressen?»

Noch rätselhafter ist das Geheimnis eines grossen Gegenstands, der auf dem alten Turm stand, in dem die Glocken die Zeit ansagten. Jürg Fahm hat sie dank des Werkhofleiters entdeckt, der zu ihm sagte, dass er im Lager «öppis Verruckts» habe: Die Windrosette, die dort während Jahrzehnten in einer Ecke verstaubte. Ihre Arme, die in alle vier Himmelsrichtungen zeigen, tragen deren Anfangsbuchstaben S (Süden), W (Westen), N (Norden) und E – E? Woher kommt dieses E?

Osten heisst auf Englisch east. Nur: Weshalb soll ein Erlacher Schmid mit englischen Eisenlettern auf die Himmelsrichtungen verweisen? Kurator Fahm ist ratlos. Wer die Antwort kennt, kann sie auf der Museums-Homepage www.museumerlach.ch publizieren. Als Dankeschön wird Jürg Fahm die Lösung mit dem Namen desjenigen bei der Windrose platzieren, der das Rätsel gelöst hat.

 

Trauern in der Ruine

Ergänzt wird die Ausstellung durch alte Fotografien; das älteste Bild stammt aus dem Jahr 1888. Darauf zu sehen sind Männer, Frauen und Kinder, die mit ernsten Gesichtern posieren oder einer Tätigkeit nachgehen. Unter ihnen der älteste Erlacher, der 95-jährige Rudolf Bessart und FDP-Gründer als Dreijähriger auf den Armen seiner Mutter.

An einer Wand hängen Fotos vom Brand. Bilder von ausgebrannten Häusern, Menschen, die zwischen Rauchschwaden aufräumen. Und das Foto eines Mannes, der still zwischen den Ruinen sitzt, den Kopf gesenkt. «Vielleicht sitzt er in seinem ehemaligen Wohnzimmer», mutmasst Jürg Fahm.

Nach dem Brand beschlossen die Erlacher, die Häuser wieder aufzubauen, doch mit der Versicherungssumme von nur 36 000 Franken war dies unmöglich. Eigenes Geld besassen die obdachlosen Familien kaum und während des Ersten Weltkriegs gab es nur wenig Verdienstmöglichkeiten. Doch die Erlacher waren findige Laute, sie gründeten eine Genossenschaft zum Wiederaufbau. Der Kanton bewilligte die Mitfinanzierung durch die Landeslotterie; der Verkauf von einer Million Losen brachte 250 000 Franken. Wegen der galoppierenden Teuerung beliefen sich die Baukosten innerhalb von fünf Jahren allerdings auf 423 000 Franken. Die neuen Häuser wurden den Opfern des Brandes zum Rückkaufansatz von 30 bis 35 Prozent angeboten.

Und dennoch: Die abgebrannten Häuser waren unwiderruflich verloren – oder etwa doch nicht ganz? Grafiker Werner Foster hat verschwundene Häuser detailgetreu mit Tusche gezeichnet. Auch diese Bilder sind Teil des Museums. Eines Museums, das in absehbarer Zeit dorthin zügeln wird, wo es sich Jürg Fahm erträumt hat: in den Schlossestrich, dessen morsches Gebälk repariert wird.

Info: Das Museum ist morgen und am Sonntag von 10 bis 16 Uhr geöffnet. Danach finden begleitete Führungen für Gruppen bis zu zehn Personen statt. Auch Schulen mit Jugendlichen sind willkommen. Ort: Beim Schulhaus rechts in die kleine, namenlose Gasse abbiegen. Der Eintritt ist frei, es gibt eine Kollekte. Anmeldung via Email: office@tourismus-erlach.ch

 

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Eisenbahnen, Badende und neues Land

In 25-Jahr-Schritten zeigt Kurator Jürg Fahm die Geschichte von Erlach und der Schweiz auf. Den Abschluss bildet eine Provokation.

In einem separaten Raum des Museums Erlach erwarten Besucherinnen und Besucher nur wenige alte Gegenstände. Stolz ist Kurator Jürg Fahm auf den Kassenschrank aus dem 16. Jahrhundert, den ihm die Denkmalpflege überlassen hat. Er steht in einer tiefen Nische im alten Gemäuer, durch das einst der Dorfbach floss.

Der geschichtliche Exkurs, den Fahm zusammengestellt hat, beginnt im Jahr 1841. Grund: Seit diesem Jahr existieren in der Schweiz brauchbare Karten der Landestopografie. Es sind Ereignisse, die in Erlach, im Grossen Moos, in der Schweiz oder weltweit Geschichte gemacht haben. Dazu gehören Hungersnöte, die letzte Hinrichtung in der Schweiz, die beiden Weltkriege oder der Wiener Kongress. Zeitzeugen sind Landeskarten, Texte, Dokumente und Grafiken.

 

Erstes Bad im See

Eine Grafik zeigt zum Beispiel die Pegelstände des Bielersees vor und nach den beiden Juragewässerkorrektionen. Während es nach der Zweiten Juragewässerkorrektion nur noch drei Mal zu klei- neren Überschwemmungen kam, schwankte der Seespiegel vor der ersten Korrektion um fünf Meter. Wie sich die Erste Juragewässerkorrektion auswirkte, dokumentiert eine einzigartige Aufnahme aus den 1880er Jahren: Der Heideweg dringt wegen der Senkung des Seespiegels langsam an die Oberfläche. Erlach ist möglicherweise die einzige Gemeinde der Schweiz, die ohne zu bezahlen zu Neuland kam.

Fotografien zeigen Menschen, die das Freizeitvergnügen Baden eben erst entdeckt hatten, Badekleider waren zu dieser Zeit noch nicht erfunden. Selbstverständlich war hingegen, dass Männer und Frauen getrennt badeten.

Weiter wird ein nie realisiertes Projekt vorgestellt, das Erlach vermutlich grundlegend verändert hätte: Die Unterlagen zum Bau einer Eisenbahnlinie aus den Jahren 1866 bis 1890, die nach Erlach geführt hätte – was der damalige Gemeindepräsident vehement abgelehnt hat. Vermutlich hätte der Bau einer Bahnlinie zu einem deutlich stärkeren Bevölkerungswachstum im Stedtli geführt.

 

25 Jahre später...

Auf der letzten Tafel verbindet Fahm die Vergangenheit mit der Zukunft: Wie wird Erlach in 25 Jahren aussehen? Besucherinnen und Besucher können ihre eigenen Visionen zeichnen oder niederschreiben. Soll das Stedtli autofrei werden? Soll es stärker belebt werden? Braucht es ein Parkhaus?

Der Kurator hat den Anfang gemacht – mit einer Provokation. Dort, wo heute die beiden Campingplätze sind, hat er Hochhäuser gezeichnet. In die teuren Wohnungen direkt am Strand könnten gute Steuerzahler einziehen, aus den Erdgeschossen könnte eine Flaniermeile werden. Doch was würde es für die Bewohner von Erlach bedeuten, ihren Strand zu verlieren? Und was für die vielen Touristen, die dort im Sommer ihre Zelte aufschlagen? LT